Wie ein verstörender Traum, so wüst. So unglaubwürdig plausibel. Von seltsamer Logik, doch wahr. Wie zusammengestaucht ist man nach der Lektüre, Dann sagen sollen, das ist passiert, das habe ich geträumt. Die hanebüchene Handlung ist keine Empfehlung, die ich mir leichtmache. Es ist keine altmodische Räuberpistole, ein Schnellfeuergewehr, ein literarischer Flammenwerfer vielmehr. In drei schmerzhaften Räuschen gelesen. Die Pausen waren durchaus notwendig, um es sich auf Abstand zu bringen. Es gibt alle passenden Zutaten, die Thrillerelemente, selbst die Exotik eines Abenteuers. Allein wie im „Giftghetto“ des Buchs: Betreten auf eigene Gefahr. Jede Seite ist kontaminiert.
Sein Schauwert ist verführerisch. Nicht jede Verführung endet angenehm. Praktisch keine.
Die zwei von ihren Müttern im Schließfach ausgesetzten Jungen Kiku und Hashi erfahren später durchaus Liebe, besitzen Möglichkeiten, behaupten sich – zerstören alles. Ich verrate nichts, wenn ich sage, wortwörtlich.
„Immer wenn ich eine Bettlerin oder eine Landstreicherin sehe“, sagte er zu Kiku, „frage ich mich, ob sie vielleicht die Frau ist, die mich geboren hat. Wenn ich eine Frau sehe, die schmutzig, allein, ängstlich und mit hängendem Kopf um Essensreste bettelt, zittere ich. Bestimmt hat es ihr Unglück gebracht, mich auszusetzen. Mit sowas kann niemand glücklich werden. Diese Frauen tun mir so leid, dass ich am liebsten Mama rufen und sie umarmen möchte. Aber wenn sie wirklich meine Mutter wäre, würde ich sie wahrscheinlich umbringen.“
Es ist natürlich Quatsch. Es war nicht schmerzhaft. In dem Sinne. Man kann sich ja jede Lektüre bequem machen. Wer hat nicht einen Lieblingsplatz zum Lesen?
Das Buch trägt seinen Teil dazu nicht bei: Ungeheuerliche Vorgänge, keine Erholung, ein Parforceritt, die oft zitierte Achterbahnfahrt im alkoholisierten Zustand, das alles. Ein Pageturner, das auch. Aber kein Trost der Literatur. Keine Behaglichkeit. Keine Liebe. Dazu völlig ungeeignet. Höchstens im Zerrspiegel, in der Vieldeutigkeit eines Traums.
Eben doch, Liebe doch. Aber Liebe, die nicht angenommen werden kann. Für Kiku und Mashi bleibt ihr Leben ein Schließfach, von dem sie glauben, sich nur selbst daraus befreien zu können.
Ich muss stark werden, muss mich von den Menschen lossagen, die mich geliebt haben. Ich muss mein Leid allein tragen…
Und wenn es in die Zerstörung führen muss, der eines geliebten Menschen oder von Millionen. So nimmt’s kein gutes Ende und der eine (Kiku) wird statt eines gefeierten Sportlers vielleicht zum Massenmörder, während der andere (Hashi), am Beginn einer Gesangskarriere, dem Wahnsinn verfallen wird.
Das ist ein Buch, von dem man sich immer wieder wünscht, man würde es zum ersten Mal lesen können. Dass man nur schnell genug vergessen konnte, welche Ungeheuerlichkeiten einem zugemutet worden sind bei der Lektüre. Dass man nicht mehr weiß, was einem bevorsteht. Um das alles voller Lust noch einmal durchmachen zu dürfen.
Von neun Kindern, die in Schließfächern ausgesetzt wurden, haben nur Hashi und ich überlebt. Alle anderen sind tot. Nur Hashi und ich haben es geschafft, weil Sommer war. Hitze und Schweiß haben uns ins Leben zurückgebracht. Für mich ist Sommer die einzige Jahreszeit. Im Sommer haben die Schatten scharfe Konturen.
Es ist mir fast unangenehm, aber ich muss ehrlich sein und dieses Buch empfehlen – als Sommerlektüre. Ganz was Feines.
Ryu Murakami, Coin Locker Babys (Septime Verlag) , adäquat übersetzt von Ursula Gräfe (ein Interview mit ihr findet sich bei we read indie . Ich hätte sie gerne gefragt, wie sie’s ausgehalten hat.)