Zu Beginn zum Ende hin, Meneer Mandaat erzählt seinen Kollegen eine Geschichte von seinem Großvater, wahr oder nicht. Dieser soll, kurz vor dem Krieg, von den Niederlanden zur Arbeit mit dem Motorrad jede Woche nach Deutschland gefahren sein und natürlich wieder zurück, die ganze Strecke, vier Stunden. Bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit.
Wenn er nach Hause kam -und das war jedes Mal spät in der Nacht,- war er steifgefroren.
Bei einer der Heimfahrten im Winter, da war er’s wohl mehr und konnte sich gar nicht mehr rühren, nur noch blinzeln, aber nicht mehr lenken, verpasste sämtliche Ausfahrten und fuhr so in sternenklarer Nacht geradeaus auf unbekannter Strecke seinem Ende entgegen.
Zuvor aber, da kamen ihm beim Anblick der Sterne, während er so durch die Nacht rast, allerlei lebensphilosophische Fragen in den Sinn, wie wundersam es etwa sei, „dass man Sterne strahlen sieht, die schon seit Jahren erloschen sind“ – in der Art.
Mandaat erzählt diese Geschichte, von der man nicht weiß, ob sie wahr ist, wohl eher nicht, und findet kein Ende. Und kein Ende für eine Geschichte finden und es ist keine. Als er eines findet, sind die Kollegen schon fort, die vorher noch gebannt zugehört haben. Und ob nun der Großvater noch immer, bereits erfroren, als Geist die Straßen durchrast oder ein glücklicheres Ende gefunden hat, wird nicht erzählt.
Der erzählte Großvater, die strahlenden Sterne. Sonst nichts. Kein Ende. Alles Erscheinung, wahr oder nicht.
Unser Stern, aus gehöriger Entfernung betrachtet, zwar strahlend, ist vielleicht ebenso schon lange erloschen. Und wie ehemals Lebende ziehen wir nun zwar weiter unsere Bahnen, aber sind längst passé.
Nur Spuk, das wären wir. Und begegnen uns als die Geister, die wir sind, nie ganz wirklich, nie ganz da. Mehr fremd als anderes sind wir uns einander – und uns selbst. Nie ganz greifbar und nie also ohne Misstrauen, nie ganz nah, bis dass einer dem anderen tatsächlich Hölle wird.
Wir, Sterne und dazwischen die Kälte des Raums.
Was ist da der Geist, der sich behauptet in Büchern? Dass man sich daran festkrallen möchte an den zahllosen Seiten. Aber wissen wir deswegen mehr vom Menschen. Das Konkreteste, wie wahr, sind die Begierden und Darmtätigkeiten. Ist Taubenkot. Verorte Geist! Vage.
Meneer Mandat arbeitet in diesem Roman von Frans Kellendonk zur Vertretung in einer Bibliothek. Endlose Regalreihen von Wissen. Doch eine Frage:
Wer oder was garantiert, dass all das, was wir hier sehen, auf diesen zigtausend Metern Regalfläche, nicht komplett unverständlicher Blödsinn ist?
Und:
Was gibt uns diese Gewissheit, dass wir beim Lesen etwas verstehen?
Fragt Mandaat ein Kollege und „Mitglied der Direktion“, ehemals Theologe. Für die Bibliotheksleute sind die Bücher Gegenstände und haben höchstens die Bedeutung, als Fliegenklatsche dienen zu können.
Wer dennoch in Büchern etwas finden will, der sei gewarnt:
Keine größere Einsamkeit gibt es als die der Sprache.
In Büchern mag Wahrheit zu finden sein. Mehr über die Menschen, die uns umgeben, mit denen zu leben ist, verraten ihre Lügen.
Die Wahrheit kann man in jeder Enzyklopädie nachschlagen; in der Lüge entblößt jemand seine ganze Seele.
Dieser Roman von Frans Kellendonk ist in der Tat eine Spukgeschichte, die einen frösteln lässt, obwohl man sie mit Lust liest. Dabei ist sie nicht ohne Humor. Und wenn es nicht unstatthaft wäre, diese Geschichte mit einer beliebigen eines berühmten Pragers zu vergleichen, so würde ich’s tun. Sie dient zu mehr als nur dazu, Fliegen zu erschlagen; sie schlägt gewaltig auf den Kopf.
Danke, tat weh. Tat aber auch gut.
Frans Kellendonk: Buchstabe und Geist, Eine Spukgeschichte (Lilienfeld)