Ein Lehrer früher, Kraußkopf mit Namen, der wollte einmal von uns das Gegenteil von gut wissen und ein Teil sagte böse, ein Teil sagte schlecht. Kraußkopf sagte aber, alles nicht richtig, gleichgültig wäre das Gegenteil. Das blieb mir in Erinnerung. Warum aber vieles andere nicht? Jedenfalls, in gewisser Hinsicht mochte, was er behauptete, stimmen, da gab ich ihm recht, wenn damals auch nicht gleich und sofort. Ich habe ihn gemocht, aber er war schwierig. Und ich bin selbst immer schon ein Dickkopf gewesen.
Wie komme ich drauf?
Mancher mag ja meine Absichten kennen. Und was diese Absichten angeht, so muss ich mich langsam in ein paar Dingen üben. Ich sollte damit beginnen, über Bücher zu sprechen, die ich für gut halte. Über andere werde ich kein Wort verlieren. Etwa, weil sie schlecht wären? Nein. Für einen guten Leser kann es kein schlechtes Buch geben. Es kann für einen guten Leser nur Bücher ohne Belang geben.
Warum sollte ich über etwas sprechen, das mich nichts angeht, das mich kalt lässt? Das muss übrigens nicht am Buch liegen, dass es nicht berührt. Für den Leser mag das Gegensatzpaar gut-gleichgültig gleichermaßen gelten. Man wird erst zum guten Leser. Oder eben nicht.
Was das Gleichgültige betrifft und das Schlechte, so könnte ich auch anders reden. Wenn ich von gleichgültig spreche, dann weil mir zunächst das Wichtigste erscheint, ob mich eine Geschichte packt, die Sätze mich ansprechen – ohne, dass ich gleich auf den Sinn dahinter käme und ich mich einverstanden erkläre mit dem, was der Autor sagt, oder eben nicht und sofern ich es verstehe. Ich frage mich auch nicht, wie hat er das gemacht. Das kann noch kommen, muss aber nicht.
Ein wichtiges Kriterium ist, ein gutes Buch muss lebendig sein.
Mir ist Aktualität kein Auswahlkriterium (aber auch kein Ausschlusskriterium). Bevor ich mit anderen über ein Buch spreche, suche ich erst einmal das Gespräch mit dem Buch. Wie unter Menschen kann es dauern und braucht es die richtige Stunde für solch eine Vertraulichkeit. Und ein gutes Buch kann warten. Wie der gute Leser.
Im Übrigen ist das alles höchst subjektiv und wahrscheinlich allein der Tatsache geschuldet, dass ich zu langsam bin, um aktuell zu sein. Ich werde also, das sei hier gleichmal gebeichtet, bei einem, der das kann, up-to-date zu sein, ein wenig tricksen müssen. Bitte verratet mich dann nicht, dass ich das gewollte Buch gar nicht kenne und nur improvisiere. Überzeugend werde ich ihm sagen, „es wurde in der XYZ gut besprochen“ und die Verantwortung dafür weiterreichen, sollte es nicht gefallen.
Doch wenn ich den Leser kenne, so wird sich auch das Buch finden, das zu lesen die Zeit ist.
Welchen Leser kenne ich nun am besten? Mich selbst. Selbst dann jedoch finde ich für mich nicht immer das Richtige. Manchmal aber schon. Und habe ich solch ein Buch gelesen, dann kann ich es empfehlen, einem Leser, der ein wenig so ist wie ich selbst. Dann sage ich zu ihm, …
…“das würde ich lesen“ -und es klingt dabei mit-, „wenn ICH es nicht schon gelesen hätte“. Das weiß ich, weil ICH es bereits gelesen habe. Vertrauenssache, wenn er meinen Geschmack kennt und ich dabei ganz ehrlich bin und noch euphorisch genug, dann wird er das Buch schon nehmen.
Die folgende Empfehlung ist an mich gerichtet und an den mir nicht ganz Unähnlichen, doch zumindest wird einer das lesen, der wenigstens mich ein wenig kennt und meinen Geschmack für nicht ganz mißraten hält, was sich in die eine wie andere Richtung sich noch wird ändern können.
Denn, dies noch und dann empfehle ich, ich mag Geschmack bewiesen haben, wird es mir jedoch an den rechten Worten fehlen, so wird mir das alles nichts nutzen und die Empfehlung im Sande verlaufen, ich bliebe damit dem ich sie gegenüber ausspreche gleichgültig, denn nicht jeder gute Leser versteht auch mit Worten umzugehen. Ich mag das hoffen, es möge mir im Falle des Scheiterns dann wenigstens bleiben, ein guter Leser zu sein oder ich wäre weder das eine noch das andere.
Meine erste Empfehlung:
Monika Maron, Pawels Briefe (Suhrkamp-Fischer, 1999, mein Exemplar: Gewicht, 342 Gramm, 204 Seiten, 20 Lesezeichen)
„Mein Großvater stand jeden Morgen als erster auf und servierte jedem seiner Kinder ein Frühstück; für Bruno Tee, Kaffee für Marta, Milch für Hella, Kakao für Paul. Auch als seine Kinder erwachsen, sogar wenn sie arbeitslos waren, und er selbst Arbeit hatte, kochte mein Großvater ihnen, sofern sie früh genug aufstanden, ihre Getränke, und das, wie Hella beteuert, nicht nur an den Sonntagen, sondern wirklich an jedem Tag. (…) Diese Szene aus dem Leben meiner Mutter gehört seit jeher zu meiner Vorstellung von Glück.“, S.25
Wann kann man sagen, dass eine Spurensuche gescheitert ist? Maron versucht in in ihrem Buch, ihren Großvater in ein Leben zu bringen, das sich für sie sinnhaft erinnern ließe. Pawel Iglarz, konvertierter polnischer Jude, der mit seiner Frau Josefa zu Beginn des 20.Jahrhunderts nach Berlin übersiedelt, als Schneider sein Auskommen für sich und seine Familie findet, um 1939 wieder nach Polen ausgewiesen zu werden, 1942 wird er von seiner Frau, die kurz darauf stirbt, getrennt, kommt in das Ghetto Belchatow und wird mutmaßlich bei Belchatow in den Wäldern erschossen oder kommt im Vernichtungslager Kulmhof um. Das sind Eckdaten, das ist kein ganzes Leben „weil man ihn gehindert hatte, es zu Ende zu leben“.
Die Schwierigkeit allerdings ist die, hinter dieser Tragödie sich das „normale“ Leben zu vergegenwärtigen, dass ihr Großvater und seine Frau „Glück“ erfahren haben, den ganzen Menschen zu erkennen.
Und Maron nimmt sich der Aufgabe an und lässt so ein (mögliches) Portrait ihrer Familie entstehen. Sie kommt allerdings immer wieder an den Punkt, zu hinterfragen, wieviel davon Verklärung ist, wieviel Idylle.
„Schon wieder die Idylle? Oder die fatale Asymmetrie der Begriffe? Was verstehe ich von einem Glück, das sich im Überleben erfüllt?“, S.55 Was kann Sie wissen und wie es beurteilen, die sie in einer anderen Lebenswelt aufwächst und in ihren Versuchen auf die Erinnerungen anderer zurückgreifen muss. Und immer wieder die Neigung, die (großen) Lücken mit eigenen Weltvorstellungen zu füllen. Es läuft darauf hinaus, dass Erinnerung immer schon Interpretation ist, deswegen jedoch nicht weniger wahr.
Doch wenn da eine noch größere Lücke sich auftut, weil eine ganze Generation für einen verloren ist, wie holt man sich da die Erinnerungen und weiß, so wird es gewesen sein. Und wie sehr kann man sich verlassen auf das Zeugnis Dritter, selbst bei denen, die einem nahestehen, die doch ihrerseits Vorstellungen und ganz eigene Erinnerungen haben, „Interpretationshoheit“, wie es Marons Mutter Hella für sich in Anspruch nimmt.
„Kindlichen Ich-Erzählern in der Literatur, sofern sie nicht durch eine besondere Begabung legitimiert sind wie Oskar Matzerath oder sofern sich der Bauchredner, als dessen Puppe sie agieren, nicht zu erkennen gibt, begegne ich fast immer mit Widerwillen; autobiographischen Kindheitsbeschreibungen mißtraue ich ganz und gar, meinen eigenen auch. Ich erinnere mich wenig an meine Kindheit und habe trotzdem eine genaue Vorstellung von ihr. Wie die meisten Menschen habe ich mich in meinem Leben hin und wieder gefragt, warum ich wohl geworden sein könnte, wie ich bin, und habe mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antworten gegeben. Vielleicht habe ich dabei die kleinen Szenen und flüchtigen Skizzen den großen Gemälden geopfert, die ich mir in wechselnden Stilarten von meiner Kindheit gemalt habe.“, S.166
Es ist nicht allein die Frage, wen vorzufinden in der Vergangenheit möglich ist, sondern auch, ob es am Ende nicht allein die Person ist, die man vorzufinden die Absicht hatte. Und so ist die Frage für Maron, glaube ich, nicht so sehr, ob für sie die Spurensuche, die sie bis nach Polen und den Lebensstationen ihrer Großeltern führt, erfolgreich ist, sondern, ob sie es hätte überhaupt sein können.
„Ich neige dazu, den Zufällen und spontanen Entscheidungen der Vergangenheit zu unterstellen, sie seien insgeheim schon immer einem sich viel später offenbarenden Sinn gefolgt, und ich befürchte, es könnte ebenso umgekehrt sein: weil man das Chaos der Vergangenheit nicht erträgt, korrigiert man es ins Sinnhafte, indem man ihm nachträglich ein Ziel schafft, wie jemand der versehentlich eine Straße ins Leere gepflastert hat und erst dann, weil es die Straße nun einmal gibt, an ihr beliebiges Ende ein Haus baut.„, S.13
Mir ist beim Lesen öfters der Gedanke gekommen, dass wenn es Antworten sind, die wir suchen, wenn wir uns erinnern wir die Fragen finden, die nötig sind. Für unser Leben. Und die Erinnerung derer, die nach uns kommen.
Dieses Buch habe ich mit großem Interesse gelesen, dieses Buch, in dem sich Maron auch mit ihrer Mutter Hella, einer überzeugter Kommunistin, auseinandersetzt, die, Monika war bereits auf der Welt, Karl Maron heiraten sollte, später Innenminister der DDR.
Nach „Animal Triste“ das zweite Buch von Maron, das mich überzeugen konnte. Es kam zur rechten Zeit.