Itiraf ediyorum(*): „Ich habe binooki beklaut.“

Ich habe binooki beklaut. Ich fühle mich räudig deswegen. Ein paar Tage ist es erst her seit dieser Tat. Ein für diesen Juni lauer Sommerabend, ein Geburtstag, 4 Jahre, eine Lesung und anschließend Häppchen, von denen zu viele ich aß. Doch von diesem Laster will ich gar nicht reden.

Nein, denn ich habe binooki beklaut. Es war diese Gelegenheit. Die Lesung war vorbei, ich war auf’s Äußerste angeregt. Alle strömten nach draußen. ich nicht, trotz der Häppchen. Keiner hat mich bemerkt. Alles recht unübersichtlich. Viele Menschen, auch einige Besiktas-Fans. Ich blieb zurück. Und tat es. Ich habe so etwas noch niemals vorher getan, ich schwöre.

Doch ich wollte diese Kleinigkeit, als eine Erinnerung. An den schönen Abend. Aber vor allem als eine Erinnerung an den Ehrengast.

Ich habe die Hoffnung, es müsste noch möglich sein, sich irgendwie zu arrangieren. Es muss nicht gleich ein Fall für die Justiz daraus werden. Ich bringe es zurück, wenn es sein muss, schicke es mit der Post. Oder arbeite es ab, indem ich die Bücher austrage oder so. Was hat binooki auch für Autoren, denen man an den Lippen hängt, wenn man zwangsläufig auch nicht jedes Wort versteht? Mit den Übersetzungen aber, da kann ich folgen. Das klappt. Sehr gut sogar.

Und werde verführt. Letzten Montag sogar zu einem Verbrechen.

Denn ich stahl ein Fragment von der Bierflasche von Emrah Serbes.

FragmenteDabei fällt mir ein, wo ich dieses Geständnis ablege, dass ich ein noch größeres Vergehen zu gestehen habe: ich habe noch kaum ein Buch von binooki gelesen UND von dem Ehrengast vom letzten Montag nicht einmal eine Zeile. Ich werde rot, da ich dies schreibe, nicht allein, weil das ja gar nicht geht, sondern auch wegen meiner Dummheit und meines Übereifers, hätte ich doch lieber seine Bücher klauen sollen und nicht einen Kronkorken.

So werde ich mir seine Bücher nun wahrscheinlich kaufen müssen, will ich sie lesen, denn ich denke, für die nächste Lesung wird das Hausverbot für meine Person zu rigoros umgesetzt werden, verständlicherweise.

Ben aptal! (*)

(* ansprechend wird bei binooki vom Türkischen ins Deutsche übersetzt, ich musste für den umgekehrten Weg auf den google-Übersetzer vertrauen. So oder so, es kam von Herzen, vorhandenes Sprachverständnis ist allerdings nicht zu vermuten. Bei Fehler in der Übersetzung bitte ich um Nachsicht und Korrektur.)

Hunds Lektüre: Monika Maron, „Pawels Briefe“

Ein Lehrer früher, Kraußkopf mit Namen, der wollte einmal von uns das Gegenteil von gut wissen und ein Teil sagte böse, ein Teil sagte schlecht. Kraußkopf sagte aber, alles nicht richtig, gleichgültig wäre das Gegenteil. Das blieb mir in Erinnerung. Warum aber vieles andere nicht? Jedenfalls, in gewisser Hinsicht mochte, was er behauptete, stimmen, da gab ich ihm recht, wenn damals auch nicht gleich und sofort. Ich habe ihn gemocht, aber er war schwierig. Und ich bin selbst immer schon ein Dickkopf gewesen.

Wie komme ich drauf?

Mancher mag ja meine Absichten kennen. Und was diese Absichten angeht, so muss ich mich langsam in ein paar Dingen üben. Ich sollte damit beginnen, über Bücher zu sprechen, die ich für gut halte. Über andere werde ich kein Wort verlieren. Etwa, weil sie schlecht wären? Nein. Für einen guten Leser kann es kein schlechtes Buch geben. Es kann für einen guten Leser nur Bücher ohne Belang geben.

Warum sollte ich über etwas sprechen, das mich nichts angeht, das mich kalt lässt? Das muss übrigens nicht am Buch liegen, dass es nicht berührt. Für den Leser mag das Gegensatzpaar gut-gleichgültig gleichermaßen gelten. Man wird erst zum guten Leser. Oder eben nicht.

Was das Gleichgültige betrifft und das Schlechte, so könnte ich auch anders reden. Wenn ich von gleichgültig spreche, dann weil mir zunächst das Wichtigste erscheint, ob mich eine Geschichte packt, die Sätze mich ansprechen – ohne, dass ich gleich auf den Sinn dahinter käme und ich mich einverstanden erkläre mit dem, was der Autor sagt, oder eben nicht und sofern ich es verstehe. Ich frage mich auch nicht, wie hat er das gemacht. Das kann noch kommen, muss aber nicht.

Ein wichtiges Kriterium ist, ein gutes Buch muss lebendig sein.

Mir ist Aktualität kein Auswahlkriterium (aber auch kein Ausschlusskriterium). Bevor ich mit anderen über ein Buch spreche, suche ich erst einmal das Gespräch mit dem Buch. Wie unter Menschen kann es dauern und braucht es die richtige Stunde für solch eine Vertraulichkeit. Und ein gutes Buch kann warten. Wie der gute Leser.

Im Übrigen ist das alles höchst subjektiv und wahrscheinlich allein der Tatsache geschuldet, dass ich zu langsam bin, um aktuell zu sein. Ich werde also, das sei hier gleichmal gebeichtet, bei einem, der das kann, up-to-date zu sein, ein wenig tricksen müssen. Bitte verratet mich dann nicht, dass ich das gewollte Buch gar nicht kenne und nur improvisiere. Überzeugend werde ich ihm sagen, „es wurde in der XYZ gut besprochen“ und die Verantwortung dafür weiterreichen, sollte es nicht gefallen.

Doch wenn ich den Leser kenne, so wird sich auch das Buch finden, das zu lesen die Zeit ist.

Welchen Leser kenne ich nun am besten? Mich selbst. Selbst dann jedoch finde ich für mich nicht immer das Richtige. Manchmal aber schon. Und habe ich solch ein Buch gelesen, dann kann ich es empfehlen, einem Leser, der ein wenig so ist wie ich selbst. Dann sage ich zu ihm, …

…“das würde ich lesen“ -und es klingt dabei mit-, „wenn ICH es nicht schon gelesen hätte“. Das weiß ich, weil ICH es bereits gelesen habe. Vertrauenssache, wenn er meinen Geschmack kennt und ich dabei ganz ehrlich bin und noch euphorisch genug, dann wird er das Buch schon nehmen.

Die folgende Empfehlung ist an mich gerichtet und an den mir nicht ganz Unähnlichen, doch zumindest wird einer das lesen, der wenigstens mich ein wenig kennt und meinen Geschmack für nicht ganz mißraten hält, was sich in die eine wie andere Richtung sich noch wird ändern können.

Denn, dies noch und dann empfehle ich, ich mag Geschmack bewiesen haben, wird es mir jedoch an den rechten Worten fehlen, so wird mir das alles nichts nutzen und die Empfehlung im Sande verlaufen, ich bliebe damit dem ich sie gegenüber ausspreche gleichgültig, denn nicht jeder gute Leser versteht auch mit Worten umzugehen. Ich mag das hoffen, es möge mir im Falle des Scheiterns dann wenigstens bleiben, ein guter Leser zu sein oder ich wäre weder das eine noch das andere.

Meine erste Empfehlung:

Monika Maron, Pawels Briefe (Suhrkamp-Fischer, 1999, mein Exemplar: Gewicht, 342 Gramm, 204 Seiten, 20 Lesezeichen)

„Mein Großvater stand jeden Morgen als erster auf und servierte jedem seiner Kinder ein Frühstück; für Bruno Tee, Kaffee für Marta, Milch für Hella, Kakao für Paul. Auch als seine Kinder erwachsen, sogar wenn sie arbeitslos waren, und er selbst Arbeit hatte, kochte mein Großvater ihnen, sofern sie früh genug aufstanden, ihre Getränke, und das, wie Hella beteuert, nicht nur an den Sonntagen, sondern wirklich an jedem Tag. (…) Diese Szene aus dem Leben meiner Mutter gehört seit jeher zu meiner Vorstellung von Glück.“, S.25

Wann kann man sagen, dass eine Spurensuche gescheitert ist? Maron versucht in in ihrem Buch, ihren Großvater in ein Leben zu bringen, das sich für sie sinnhaft erinnern ließe. Pawel Iglarz, konvertierter polnischer Jude, der mit seiner Frau Josefa zu Beginn des 20.Jahrhunderts nach Berlin übersiedelt, als Schneider sein Auskommen für sich und seine Familie findet, um 1939 wieder nach Polen ausgewiesen zu werden, 1942 wird er von seiner Frau, die kurz darauf stirbt, getrennt, kommt in das Ghetto Belchatow und wird mutmaßlich bei Belchatow in den Wäldern erschossen oder kommt im Vernichtungslager Kulmhof um. Das sind Eckdaten, das ist kein ganzes Leben „weil man ihn gehindert hatte, es zu Ende zu leben“.

Die Schwierigkeit allerdings ist die, hinter dieser Tragödie sich das „normale“ Leben zu vergegenwärtigen, dass ihr Großvater und seine Frau „Glück“ erfahren haben, den ganzen Menschen zu erkennen.

Und Maron nimmt sich der Aufgabe an und lässt so ein (mögliches) Portrait ihrer Familie entstehen. Sie kommt allerdings immer wieder an den Punkt, zu hinterfragen, wieviel davon Verklärung ist, wieviel Idylle.

„Schon wieder die Idylle? Oder die fatale Asymmetrie der Begriffe? Was verstehe ich von einem Glück, das sich im Überleben erfüllt?“, S.55 Was kann Sie wissen und wie es beurteilen, die sie in einer anderen Lebenswelt aufwächst und in ihren Versuchen auf die Erinnerungen anderer zurückgreifen muss. Und immer wieder die Neigung, die (großen) Lücken mit eigenen Weltvorstellungen zu füllen. Es läuft darauf hinaus, dass Erinnerung immer schon Interpretation ist, deswegen jedoch nicht weniger wahr.

Doch wenn da eine noch größere Lücke sich auftut, weil eine ganze Generation für einen verloren ist, wie holt man sich da die Erinnerungen und weiß, so wird es gewesen sein. Und wie sehr kann man sich verlassen auf das Zeugnis Dritter, selbst bei denen, die einem nahestehen, die doch ihrerseits Vorstellungen und ganz eigene Erinnerungen haben, „Interpretationshoheit“, wie es Marons Mutter Hella für sich in Anspruch nimmt.

„Kindlichen Ich-Erzählern in der Literatur, sofern sie nicht durch eine besondere Begabung legitimiert sind wie Oskar Matzerath oder sofern sich der Bauchredner, als dessen Puppe sie agieren, nicht zu erkennen gibt, begegne ich fast immer mit Widerwillen; autobiographischen Kindheitsbeschreibungen mißtraue ich ganz und gar, meinen eigenen auch. Ich erinnere mich wenig an meine Kindheit und habe trotzdem eine genaue Vorstellung von ihr. Wie die meisten Menschen habe ich mich in meinem Leben hin und wieder gefragt, warum ich wohl geworden sein könnte, wie ich bin, und habe mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antworten gegeben. Vielleicht habe ich dabei die kleinen Szenen und flüchtigen Skizzen den großen Gemälden geopfert, die ich mir in wechselnden Stilarten von meiner Kindheit gemalt habe.“, S.166

Es ist nicht allein die Frage, wen vorzufinden in der Vergangenheit möglich ist, sondern auch, ob es am Ende nicht allein die Person ist, die man vorzufinden die Absicht hatte. Und so ist die Frage für Maron, glaube ich, nicht so sehr, ob für sie die Spurensuche, die sie bis nach Polen und den Lebensstationen ihrer Großeltern führt, erfolgreich ist, sondern, ob sie es hätte überhaupt sein können.

„Ich neige dazu, den Zufällen und spontanen Entscheidungen der Vergangenheit zu unterstellen, sie seien insgeheim schon immer einem sich viel später offenbarenden Sinn gefolgt, und ich befürchte, es könnte ebenso umgekehrt sein: weil man das Chaos der Vergangenheit nicht erträgt, korrigiert man es ins Sinnhafte, indem man ihm nachträglich ein Ziel schafft, wie jemand der versehentlich eine Straße ins Leere gepflastert hat und erst dann, weil es die Straße nun einmal gibt, an ihr beliebiges Ende ein Haus baut.„, S.13

Mir ist beim Lesen öfters der Gedanke gekommen, dass wenn es Antworten sind, die wir suchen, wenn wir uns erinnern wir die Fragen finden, die nötig sind. Für unser Leben. Und die Erinnerung derer, die nach uns kommen.

Dieses Buch habe ich mit großem Interesse gelesen, dieses Buch, in dem sich Maron auch mit ihrer Mutter Hella, einer überzeugter Kommunistin, auseinandersetzt, die, Monika war bereits auf der Welt, Karl Maron heiraten sollte, später Innenminister der DDR.

Nach „Animal Triste“ das zweite Buch von Maron, das mich überzeugen konnte. Es kam zur rechten Zeit.

Es geht abwärts mit Herrn Hund – Ins Archiv IV: vom Spülen im Ententeich

Ja, früher waren mehr Prilblumen. Und wie herrlich damals, die Finger in Zitrusfrische zu versenken. Sage es frei heraus: ich spülte gern, erwähne aber nicht, wann das war. Teile nur mit, es ist heute nicht mehr ganz so, obwohl ich es mir eingerichtet habe zu einer halbwegs angenehmen Tätigkeit. Es blieb übrig unter Anderem die übermütige Verwendung von Spülmittel, mutmaßlich kompensierend die seltenen Badetage der Kindheit im Schaum. Zu viel davon, sagt man mir, ist nicht gut. Mir gleich. Ich brauche das. Ein Zweites, das hinzukommt heute, ist die richtige Musik in der richtigen Lautstärke. (Zum Zeitpunkt der Bildaufnahme war es Daisies of the galaxy von den Eels.) Das Spülen dauert ca. 25 Minuten, im Durchschnitt eine halbe Albumlänge. Es kann auch länger brauchen. Bisweilen blieb mancher Kochtopf oder Suppenteller zu lange unbeachtet und die Kruste ist hartnäckig. Doch in der Regel geht es schnell.

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Während ich mich nun zunächst mit Tellern, Gläsern und Tassen abmühe, komme ich dazu, über dies und das nachzudenken, vielleicht bereits in Gedanken einen neuen Beitrag vorzubereiten, diese unterbrochen oder begleitet von einzelnen, fragmentarisch memorierten Textzeilen aus dem Lied, das gerade läuft und die ich in falscher Tonlage und genuscheltem Englisch von mir gebe. Mein Gedächtnis ist so schlecht wie mein Talent für Fremdsprachen. das war schon einmal anders. Jetzt spielen beide Schwächen allerdings keine Rolle. Hier stehe ich allein am Spülbecken und es ist keiner da, den das irritieren könnte. Mich tut es das nicht beim Nachdenken, ist eher hilfreich und so komme ich etwa auf die Idee, über Archiviertes nachzudenken und weiter, was es damit überhaupt auf sich hat und wem damit gedient sein soll? Doch sage ich gleich: die Hauptsache ist hier das Spülen. Das Geschirr will sauber werden. Was nun dabei nuschelnd gesungen und halb bis dreiviertel gedacht wird, ist nur eine Nebenher-Angelegenheit.

Und so wagte ich und brachte gedanklich zusammen: mag sein, ein wenig ähnlich wären die schönen Erinnerungen dem Spülmittel, das sich Erinnern das Spülen selbst und was sich angesammelt hätte an Verkrustungen und Schmiere (nicht zu lange damit warten) würde sich lösen darin. Nur dem Haben von schönen Erinnerungen würde nie der Vorwurf gemacht werden können, zu viel Spülmittel. Das kann wohl nicht gesagt werden. Vielmehr zweierlei vielleicht, dass am Ende von zu langem dauerhaftem Versenken in Erinnerung sich nichts mehr löst und übrig bleibt allein eine Brühe.

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Spätestens dann ist mit dem Sich Erinnern, wie zitrusfrisch die Erinnerungen auch sind, aufzuhören.

Ich zumindest beende bei brauner Brühe das Spülen. Meine Finger sind auch bereits ganz verschrumpelt. Alle Geschirranteile sind mehr oder weniger sauber und tropfen sich ab. Mit dem Abtrocknen, ich gestehe es, habe ich es nämlich im Gegensatz zum Spülen nie so gehabt. Zum Abtrocknen fiele mir jetzt philosophisch betrachtet auch nicht so sehr viel ein. Dazu ist, Glück oder nicht, kein längerer Text zu erwarten.

Denn letztlich ist die entscheidende Philosophie doch eine ganz andere: Erinnerungen, Brühe oder Schaumbad, werden erst dann zu Quelle und Jungbrunnen, wenn man eine Ente hat, die man hineinsetzen kann. Ich habe 328 zuhause. 

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Jetzt mag sich jeder selbst überlegen, was so eine Ente bedeutet. Wichtig, das verrate ich noch, ist aber, dass man sie ausreichend füttert und ihnen den nötigen „Auslauf“ gibt. Ich beschäftige mich weiter mit Erinnerungen, will mich aber auch wieder mehr und intensiver um meine Enten kümmern………..

…..und das Spülen (und alle Philosophie) endet mit einem letzten Lied (und ebenso, traurige Randnotiz von so ziemlich allem, im Ausguss)….wie passend:

Und singe noch ein wenig weiter ein wenig falsch und tanze jetzt dazu, wozu ich auch kein Talent habe………sieht ja keiner.

(Nachtrag 05.09. 14:28 Uhr: unbedingt empfehlen kann ich in dem Zusammenhang das Buch von Mark Oliver E(els)verett, Glückstage in der Hölle – org.: Things the grandchildren should know.)

Es geht abwärts mit Herrn Hund – Ins Archiv III: Wimmelbilder

Das Buch vor mir aufgeschlagen, Bauernhof, Rummelplatz, Hafen oder Supermarkt, such such, wo ist die Kuh, das Karussell, der Kran, ich verstehe es jetzt, was das sollte. Aber jetzt, es ist kein Buch mehr, nichts, was sich so einfach zuschlagen lässt und auch nichts, das immer angenehm wäre. Damals auf dem Schoß eines nahen Verwandten, Schokolade im Mund und drum herum, ein Sonntagnachmittag, es sind die Großeltern, abends vor dem Schlafengehen die Eltern vielleicht und im Buch mit den Tieren, Zoo, Meer und Wald, ich finde das Eichhörnchen, bevor ich zu müde bin, noch ein Kuss, das Licht gelöscht und die Bilder von eben wechseln in meine Träume. Ich habe sie geliebt diese Bücher, ganz sicher die erste (Welt-)Literatur, die mir unterkam.

Es ist nicht so sehr viel anders heute; meine Erinnerungen, mehrere solcher Wimmelbilder, die meisten davon nicht für Kinderaugen an einem Sonntagnachmittag gemacht, liegen übereinander, doch oft bin ich schon müde, bevor ich suchen will. Hatten die Bücher mit den Wimmelbildern Seitenzahlen? So oder so, meine Erinnerungen, mein „Archiv“ folgt einer anderen Ordnung, die ich nicht durchschaue. Ich bringe die Jahre durcheinander, vertausche die Sehnsüchte und Träume, was ich nur gedacht, geträumt mit dem, was tatsächlich passiert ist und bin mir nur sicher bei ein paar Leidenschaften und Abneigungen: ich glaube nicht, die Ramones jemals geliebt zu haben und weiß doch nicht warum. Bei all den Wimmelbildern, wer hilft mir, ein großväterlicher Finger, der erklärend zeigen würde. Schau hierhin, dorthin, nein, es ist schwierig, mit seinen Erinnerungen alleine zu sein.

Und ich dachte, ich bräuchte nicht meine Phantasie und könnte mich ausruhen, mich bloß erinnern. Da ist kein „bloß“. Erst einmal dem, was war, auf die Schliche kommen, nachspüren und sammeln. Das sind nicht nur ein paar Zettelkästen von kurzgefassten Geschichten. Es sind überhaupt keine Geschichten, oft nicht einmal ansatzweise, oft nur Fragmente, Gedächtnisfetzen wie Mosaiksteine, durcheinandergemischt, ein übergroßer Waschkorb voller Puzzleteile: es existiert keine Neuschwanstein-Vorlage. Wenn es zusammengesetzt ist, irgendwann, wird man wissen, zumindest, wer man war. Wieviel diese Person mit der zu tun hat, die man dann ist, ist eine völlig andere Frage. Bis dahin watet man durch dieses Meer von Deutungsmöglichkeiten wie mit Gummistiefeln durch ein Moor, immer mit der Gefahr, darin zu versinken.

Denn noch lebe ich ja im Hier und Heute, ein eher überschaubarer Bereich. Das Gestern und was dahinter liegt, ist es nicht, im Gegenteil.

Dann also weiß ich, für ein erinnertes Leben brauche ich ebenso Phantasie, will es mir gelingen, aus dem Leben ein Ganzes zu machen, dabei unwichtig am Ende, ob die Dinge auch so geschehen oder nur meiner Einbildung entsprungen sind. Es gibt keine Rangfolge von Wirklichkeiten. So war ich nie in Afrika und bin auch nie mit einem Zebrafell zurückgekehrt, doch so oder so ähnlich sind meine Träume und Sehnsüchte gewesen. Sie gehören zu mir wie jede andere traurige oder belanglose Wirklichkeit, wahrscheinlich sogar noch mehr als diese. Meine Mondreisen fanden statt. Beweisen kann ich es nicht, aber es fühlt sich wahr an. Und meine Gefühle sind es, die mir sagen, ob ich am Leben bin.

Und ich stelle mir vor, ich sitze in einem leeren Raum auf dem Boden, vor mir eine große leere Wand, in mir die Menge an Wimmelbildern, das „Archiv“. Es wird Zeit brauchen, ein Stück Kreide, ich schreibe das Erste, das mir einfiel, Susis Namen an die Wand. Sie ist Erinnerung. Vielleicht an eine Person, die wirklich lebte. Oder doch nur Fiktion, eine Möglichkeit von vielen. Gegen den Schlaf schütte ich Unmengen von Kaffee in mich hinein, Kaffeetasse um Kaffeetasse. Bevor ich einschlafen werde, soll mir die Phantasie helfen, ein Bild zu erhalten, darüber, wer ich war und bin. Bis dahin werde ich wahrscheinlich öfters das bereits an die Wand Geworfene wieder entfernt haben, um von vorne anzufangen. Das fällt schwerer, als mit Schwamm und Geschirrtuch die Spuren von Kaffee von den Tassen zu bekommen. Ich weiß, wovon ich rede, ich bin es, der zuhause spült.

Es braucht Zeit, es braucht Geduld und, das habe ich jetzt verstanden, es wird nicht ganz ohne Phantasie funktionieren. Ich werde immer wieder neu ansetzen müssen. Im Moment ist da nur ein Gewimmel. Ich versuche mich darin, daraus ein vollständiges Bild zu machen, meine Geschichte. Die Zutaten sind da, ich weiß es, jetzt liegt es an mir, wie kreativ ich damit umzugehen verstehe.

Und habe ich am Ende genug Kreativität, findet sich in meiner (Lebens-)Geschichte vielleicht ja sogar eine Tapetenabschlusskante. Im Moment allerdings noch nicht. Die Phantasie arbeit daran.

Was folgt, nachdem man seine Geschichte in groben Zügen kennt, wäre, sie erzählen zu können, wofür es allerdings sehr viel mehr als zehn Worte braucht. Wo soll ich die aber nur herbekommen? Eine Frage, die ich mir lieber ein anderes Mal stelle.

 

Es geht abwärts mit Herrn Hund – Ins Archiv II: die unbekannte Frau.

Und das Erste, das ich finde inmitten der Unordnung meiner abgelegten Gedanken und Erinnerungen, ist ein kurzer Satz, den ich mit vielleicht fünf oder sechs Jahren gedacht und wohl in ein verlorengegangenes Schulheft oder auf die Schulbank vor mir mit unsicherer Hand geschrieben haben werde. Ich stelle mir vor, er war in der Form, wie er mir nun wieder gegenwärtig ist, damals bereits ausformuliert und erkenne darin heute noch seine stilistischen Schwächen. Allerdings kenne ich nicht mehr seinen konkreten Anlass; der Inhalt erscheint mir, so allein und losgelöst und ohne ihn in einen Zusammenhang bringen zu können wie ein Rätsel, geradezu, als hätte ich ihn irgendwo einmal aufgegriffen, zufällig, der Satz eines Anderen, wie ein Zitat:

Susi ist dohf.“

Ich bin mir sehr sicher, keine solche Susi gekannt zu haben. Eine Brigitte, eine Gabriela, eine Vicenza, eine Roswitha, eine Katharina, eine Johanna, eine Annette, zwei Jasmins, eine Stefanie und sogar eine Jaqueline, aber ganz sicher, es gab keine Susi. Davon abgesehen, glaube ich zu wissen, mit allen Frauen von damals in bester Beziehung gewesen zu sein, was zu einer Einschätzung meinerseits, eine von ihnen sei dohf gewesen, wohl nicht gut hätte passen können. Sollte tatsächlich eine dabei gewesen sein, die nicht nett zu mir gewesen sein sollte? Ich wüsste keinen Grund. Schon damals besaß ich, bisweilen zur Sorge meiner Eltern, einen bezwingenden Charme. Nicht, dass ich es darauf angelegt hätte. Im Gegenteil war es mir die meiste Zeit peinlich, wie mich selbst Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen umschwärmten. Und es trug mir, daran erinnere ich mich schmerzhaft, oft genug die Mißgunst meiner männlichen Altersgenossen und in ihrer Eskalation auch Händel mit ihnen ein. Allerdings habe ich immer gewußt mich zu wehren, was mich wiederum in noch größerem Maße als so schon, da ich es verstand, meinem Charme noch Heldenhaftigkeit hinzuzufügen, im Ansehen meiner weiblichen Umwelt steigen ließ. Dass ich eine der Damen als zu lästig empfunden hätte oder dass es eine gegeben hätte, die gegen meinen Charme hätte immun sein können, worüber ich in Traurigkeit hätte versinken wollen, fällt mir nicht ein. Über keine hatte ich je so geurteilt, einfach, weil ich keinen Grund hatte. So dachte ich bislang.

Diese Susi ist mir ein Mysterium. Ich habe kein Bild von ihr. Doch steht mir dieser eigenartig kurze Satz als Erster vor allen anderen vor Augen. Deshalb müsste ich wohl annehmen, mit dieser Susi hätte es eine besondere Bewandtnis. Mehr noch, es beunruhigt mich zutiefst. Hätte ich all die anderen Frauen vergessen, es würde mich nicht so bedrücken wie dieser Umstand, mich an eine Susi nicht mehr erinnern zu können. Finde ich in diesem Satz „Susi ist dohf.“ nicht etwa einen Hinweis auf einen Makel in meinem damaligen Beziehungsgeflecht? Kommt darin nicht eine unausgeräumte Schuld und Verantwortung zum Ausdruck? Mit dieser Susi stand ich nicht im Einvernehmen oder es wurde dieses Einvernehmen aus irgendeinem dunklen Grund aufgekündigt. Und ich gab ihr die Schuld daran, mutmaßte bei ihr fehlendes Urteilsvermögen, weswegen ich sie für dohf hielt. Es sollte tatsächlich eine gegeben haben, die mich nicht küssen und herzen wollte?

Eine gemeinsame Geschichte wurde frühzeitig beendet oder aus Mißfallen erst gar nicht begonnen. Und gerade die verborgenen Gründe dafür reizen mich ungemein. Warum ich der Liebling so vieler weiblicher Wesen gewesen bin, ist eine Frage, die mich sehr viel weniger beschäftigt, auch wenn sie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst hat. Meine Interessen gehen aber nun mit dem Alter in höhere Sphären und es gelingt mir zunehmend besser, Avancen abzuwehren, ohne doch die betreffende Dame vor den Kopf zu stoßen. Denn ihre Gesellschaft, da bin ich immer noch derselbe wie damals als Fünfjähriger, ist mir weiterhin angenehm geblieben.

Susi, Susi, wer bist Du? Wo ist in meinen Erinnerungen, der Ort, wo ich Dich finden  kann? Wo trafen wir uns damals, auf dem Schulhof, bereits im Kindergarten oder auf einem Spielplatz? Was hat es mit Dir auf sich? Uns verbindet etwas, das mich mit keiner anderen Frau verbindet. Diese Leerstelle ist ein Schmerz, über den ich nur hinwegkommen kann, wenn ich unsere gemeinsame Geschichte finde. Die Eindringlichkeit, mit der ich auf diesen Satz gestoßen bin, als ich mich zum ersten Male hinabtraute in die Archive meines Lebens, beweist, es ist nicht verarbeitet und lastet auf mir mit Wiederfinden dieses Satzes „Susi ist dohf“ wie ein gewaltiger Stein.

Ich werde nicht aufgeben, nach Dir zu suchen oder doch zumindest nicht aufhören, nach einer Erklärung zu suchen, warum Du nur so dohf gewesen bist. Die Anderen waren es doch auch nicht.