Nona Fernández – Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Die Backlist ist nicht der Besenwagen der Literatour.  Jedes Buch ist länger backlist als Novität. Und Bestsellerlisten sind nur Aufkleber.

Ich lese langsam und werde also auch langsam abgehängt. Ich würde gerne zugeben, dass für mich das kein Problem ist. Ich würde gerne zugeben, dass ich daraus eine Tugend mache. Dass hinten mehr Zeit bleibt für genauere Lektüre. So oder so braucht man ein glückliches Händchen. Bei der Menge an Titel bedeutet ein Fehlgriff ein Verlust an Lebenszeit. Wenn man schon nicht Zeit findet, die neuesten Bücher zu lesen, so sollten es wenigstens die richtigen sein.

Ich möchte nicht prahlen, aber ich hatte in letzter Zeit ein sehr glückliches Händchen. Jemand hat es gut mit mir gemeint und mir die richtigen Bücher zugeführt. Im Moment der Wahl bin ich selten von irgendeinem bestimmten Anspruch geleitet. Es ist selten von einem konkreten Interesse geleitet, dass ich dieses nun lese und jenes nicht. Höchstens eine gewisse Sympathie für einen Autor oder einen Verlag bzw. Verleger bewegen die Waagschale zum Schluss zur einen oder anderen Seite. Zumeist wähle ich aber aus einer zeitlichen Bedrängnis heraus. Ich darf mir das also nicht selber gutschreiben, mit Urteilskraft beim Wahl meiner Lektüre gesegnet zu sein. Es ist in den meisten Fällen fast zufällig, welches Buch ich lese.

Und warum auch nicht: auf die schönsten Dinge stößt man zumeist zufällig.

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Eine schöne Begegnung ist nun gerade die mit Nona Fernández. Schon angetan von ihrem Buch „Die Straße zum 10. Juli“, bestätigt sich nun und verstärkt die Überzeugung, es mit einer außerordentlichen Autorin zu tun zu haben.

„Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ haut mich schlichtweg vom Hocker. Das ist nicht sehr ausgefeilt formuliert, aber warum sollte ich um Worte ringen, wenn es doch auch so wahr ist.

In der Mitte des Buches gibt es eine Stelle, da wird erzählt, wie Studenten die Fassade des Bahnhofs von Mapocho zeichnen. Ein Mann geht durch ihre Reihen und begutachtet ihre Zeichnungen. Er macht sich ein Bild. da heißt es:

Eine mittelgute Zeichnung spricht für sich selbst. Sie erzählt vom Leib und von der Seele, von der Vergangenheit, der Gegenwart, der Möglichkeit einer Zukunft. Eine gute Zeichnung hingegen riecht, schreit, schwitzt. Sie enthüllt Ängste, Horrorvisionen, Albträume und sogar die glücklichen Tage. Eine gute Zeichnung beweist, entwaffnet und deckt auf. Seinem Betrachter bleibt nur übrig zu schweigen und alles zu verstehen.

So geht es mir mit diesem Buch. Nur gut? Nein, es ist mehr als das. Ich sollte schweigen, da ich längst nicht alles verstanden habe. Wenn ein Buch bei Dir nicht bleibende Spuren hinterlässt, ist es nichts wert. Um’s Verstehen geht es nicht. Nicht um die Wiedergabe des Gelesenen. Es muss dich auf jeden Fall erstmal zum Schweigen bringen. Vielleicht schaffst du es dann später, irgendwas Verständnisloses darüber zu brabbeln. Vielleicht gelingen Dir sogar ein paar ganz kluge Sätze dazu, zitierbar und gefällig. Wichtig bleibt aber nicht, dass du Worte findest. Sondern dass Du anwesend bist, wenn eine quasi chemische Reaktion stattfindet, während du es liest, dass sich irgendwas verändert hat.

Ein gutes Buch, du vergisst vielleicht das meiste von seinem Inhalt, aber etwas bleibt zurück.

Der Bahnhof von Mapocho, stillgelegt, dient als Kulturzentrum für ein „Mindestmaß in Sachen Kunst und Kultur“.

Sie kommt, grüßt, gefällt, aber sie bleibt nicht lange.

Die Hauptfigur in Fernández Roman ist der Fluß Mapocho, er durchzieht Santiago und auf dem die Toten dahintreiben und nicht vergessen werden können. Da sind die Lebenden Rucia und Indio, das Geschwisterpaar, deren Vater eines Nachts verschwand und die Mutter tödlich verunglückte, sowie Fausto, ein Historiker, der die Geschichte Chiles neu erzählen will, dabei lieber einige Stellen verschweigt und von teilweise kopflosen Toten sich verfolgt glaubt. Sie suchen und finden einander, die Toten und die Lebenden. Sie sind nicht zu vergessen. „Der Tod ist eine Lüge.“, sagt einmal Fausto, bereit, selbst in den Mapocho zu springen.

Der Tod ist eine Lüge. Alle kommen Sie wieder. Oder sind immer da. Mit Ihnen eine nicht wieder gutzumachende Schuld, die selbst eine aus Granit gebaute Brücke über den Mapocho letzten Endes zum Einsturz bringt.

Erinnerung, Realität und Traum, meisterhaft versteht es Fernández, die verschiedensten Ebenen zu verbinden. Magischer Realismus, das erklärt’s, aber auch nicht.

Vergessene Erinnerungen in einem Kopf, der träumen will.

Und ich ein Leser und ein Buch, das nicht enden soll. Es wird hoffentlich nicht vergessen gelesen zu werden. Dafür kann man gerne die fünf angesagtesten Neuheiten sausen lassen.

Nona Fernández, Die Toten im trüben Wasser des Mapocho (Septime Verlag, ausgezeichnet übersetzt von Anna Gentz)

 

2 Gedanken zu “Nona Fernández – Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

  1. Den Titel werde ich mir sogleich mal notieren. Danke für den Tipp. Der Septime Verlag hat, wie ich finde, allgemein wunderbare Titel und Autoren im Programm. Ich kann da sehr den Norweger Jan Kjaerstad an Herz legen. Im Übrigen unterschreibe ich gern die Zeilen zum Thema Backlist-Lesen. Ich habe gerade meine Regale und Stapel nach dem nächsten Buch abgegrast und finde, da gibt es noch viel nachzuholen. Viele Grüße

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