Sophie Calle, Das Adressbuch

 

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Die Künstlerin Sophie Calle findet 1983 auf einer Straße in Paris ein Adressbuch. Bevor sie es an seinen Eigentümer zurückschickt, kopiert sie es und bittet die Kontakte, ihn, Pierre D,, zu beschreiben. Mancher kommt dem nach. Einige lehnen empört ab. Es ergibt sich ein Bild.

Es ist eine Zufallsbegegnung. Calle lernt einen Fremden kennen durch die Mitteilungen von Anderen, mit Pierre D. mehr oder weniger bekannten Menschen. Ich enthalte mich bei der Frage, ob es zulässig, wie sie es tut. Das ist für mich Nebensache. Mich hat vielmehr fasziniert, wie aus einem Fremden ein interessanter Mensch werden kann.

Der Fremde zu Beginn bleibt es und wird nicht vollständig durch die Beschreibungen fassbar. Aber ohne diese Beschreibungen bliebe Pierre D. vollständig fremd und nicht von Interesse. Zu Beginn bedarf es der Überwindung („Die Angst vor dem ersten Gesprächspartner“), aber mit der Zeit, mit jedem weiteren Gespräch, wird Pierre D. greifbarer, zu einer vertrauteren Person, die Callet immer besser zu kennen glaubt. Mehr als das. Sie, die Pierre D. nie persönlich begegnet ist, weiß über ihn zu erzählen, was seine Bekanntschaften nicht wussten, wie Marie-France:

Seit zwei Jahren hat sie ihn nicht mehr gesehen. Mehr weiß sie nicht. Also erzähle ich ihr von Pierre. Und sage ihr, was ich an ihm mag.

Wo ist da der Unterschied? Sie kamen zusammen mit Pierre durch einen Zufall, wissen das Eine über ihn, das Andere nicht, genauso wie Sophie Calle. Sie fand zufällig sein Adressbuch auf einer Straße, seinen jetzt besten Freunden begegnete zuerst Pierre ebenso zufällig auf der Universität, bei der Arbeit, bei einem Filmfestival oder lernten ihn kennen durch andere Freunde oder Bekannte.

Immer zuerst ein Fremder. Dann ein mehr oder weniger Bekannter, der aber auch wieder verschwinden kann und vergessen wird.

Mir fiel aber zuerst der Mut ein, den es braucht, ganz bewusst sich einen Fremden bekannt zu machen, der zufälligen Begegnung, wie etwa den Fund seines Adressbuchs, erst eine Bedeutung mittels von erzählten oder gemeinsam erlebten Geschichten zukommen zu lassen. Jeder ist jedem ein Fremder, wie jeder einem Jedem bekannt werden kann (und doch fremd bleibt).

Der Zufall verschwindet mit den Geschichten, wie das Fremde.

Aber es ist für Sophie Calle ein Projekt

Die Beschreibungen fügen sich ineinander. Das Porträt wird immer schärfer und gleichzeitig verblasst es. was erwarte ich noch? Soll ich aufhören?

Der Zufall bringt die Menschen zusammen, aber nicht wegen ihm bleiben sie es. Was ist es ? In diesem Buch von Sophie Calle, „Das Adressbuch“, gibt es darauf keine Antwort. es muss der Mensch für den anderen wohl mehr sein als ein Projekt, eine Studie, ein interessamtes Objekt. am Ende gibt es einen Fingerzeig, worauf es wohl hinausläuft, Calle wendet sich an Pierre D. direkt:

Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnen würde, würde ich Sie vermutlich erkennen, aber ich würde Sie nicht ansprechen. ich habe Ihre Freunde getroffen, ich habe ihnen zugehört. Ich brauche sie nicht mehr.

Einander brauchen. Für eine gewisse Zeit. Oder darüber hinaus.

Ein besonderes Buch. Ein interesssantes Experiment. In gewisser Weise verwerflich, aber äußerst erhellend. Besondere Empfehlung.

P.S. Sophie Calle und Pierre D. sind sich nie begegnet, haben sich nie getroffen. Die Geschichte wurde nicht fortgeführt.

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Sophie Calle, Das Adressbuch (Bibliothek Suhrkamp, aus dem Französischen von Sabine Erbrich)

 

 

 

Cinema – eine Lyrikanthologie (Elif Verlag)

Die Box mit Filmen von Kusturica, die siebte Staffel Mad Men. Matrix, alle drei Teile in abfallender Folge. Mehr ist gerade Film, mehr Episoden von 50 Minuten Länge. Leichter momentan, dieser Leidenschaft nachzukommen.

Dazu jetzt diese Anthologie zur schönsten Nebensache der Welt, kenn ich, erkenn ich, Filmzitate, nein, erwarte keine Wahrheit, überlasse mich ganz der Magie. Darf ich’s in einem eigenen Gedicht sagen, ich bitte nicht um Aufnahme, aber um Milde:

Rot oder blau?
Ich entscheide mich
Schlucke ich,
Bitter ist die Pille nicht
Und bleibe. Staunend. Mit nicht wenig ungutem Gefühl.

Weil ich doch die Technik dabei nicht verstehe.

Bei viel Sympathie. Gedichte wie diese sind wie Menschen in der Menge – hier in einem Kino-Foyer. Die einem kurz auffallen, ein Gesicht, eine Geste, ein Wort, und man spinnt Gedanken. Dann verliert es sich vermeintlich wieder. Kann sein, man begegnet sich nochmal. Da war was. Irgendwas. Man erinnert sich. Kommt nicht drauf.

Gleichzeitig empfinde ich Gedichte immer schon als Beunruhigung. Ein wenig auch als Ärgernis, als Störung. Mit einem wird man leichter fertig. Gedichtbände sind da geradezu eine Zumutung. (Wär‘ ich Heidegger, könnte ich erklären, was hier Zu-Mutung bedeuten soll.)

Dennoch ist da Faszination. Kein Wort davon, dass es glatt aufgehen muss. Wahrscheinlich bin ich zu feige für mehr als ein Gedicht. Was für Fähigkeiten muss derjenige haben, der es mit mehreren aufnimmt. Ich liebe Gedichte, ja, das tue ich, aber eher so, wie ein Kaninchen eine Schlange lieben kann. Ich bin für Gedichte schlichtweg zu feige. Mit einem Gedicht werde ich fertig.

Allerdings Gedichte über diese meine Leidenschaft, das macht mich mutiger, zutraulicher – und macht’s wahrscheinlich deshalb verhängnisvoller für mich. Schon habe ich das ganze Buch gelesen. Und mindestens zwei Folgen meiner aktuellen Lieblingsserie dabei verpasst.

Aber ich lebe noch. Ich habe bislang alle Lyrikbände der letzten Zeit überlebt. Sie kamen fast ausnahmslos aus dem Elif-Verlag. Das stählt für kommende Poesie. Das muss bereits Poesie sein. Verlockt von so viel Wagemut, befördere ich mich hinaus aus dem Kreis derer, die wirklich von Poesie etwas verstehen und in diesem Buch zu finden sind, mit einem weiteren Gedicht, ahnend, dass ich mich gleichzeitig auch als vermeintlicher Filmkenner disqualifiziere:

Mit einem Gedicht über Steven Seagal
endet Poesie
hier.
(Und kommt auch nicht wieder)

Cinema, eine Lyrikanthologie (erschienen beim Elif-Verlag)

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Nona Fernández – Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Die Backlist ist nicht der Besenwagen der Literatour.  Jedes Buch ist länger backlist als Novität. Und Bestsellerlisten sind nur Aufkleber.

Ich lese langsam und werde also auch langsam abgehängt. Ich würde gerne zugeben, dass für mich das kein Problem ist. Ich würde gerne zugeben, dass ich daraus eine Tugend mache. Dass hinten mehr Zeit bleibt für genauere Lektüre. So oder so braucht man ein glückliches Händchen. Bei der Menge an Titel bedeutet ein Fehlgriff ein Verlust an Lebenszeit. Wenn man schon nicht Zeit findet, die neuesten Bücher zu lesen, so sollten es wenigstens die richtigen sein.

Ich möchte nicht prahlen, aber ich hatte in letzter Zeit ein sehr glückliches Händchen. Jemand hat es gut mit mir gemeint und mir die richtigen Bücher zugeführt. Im Moment der Wahl bin ich selten von irgendeinem bestimmten Anspruch geleitet. Es ist selten von einem konkreten Interesse geleitet, dass ich dieses nun lese und jenes nicht. Höchstens eine gewisse Sympathie für einen Autor oder einen Verlag bzw. Verleger bewegen die Waagschale zum Schluss zur einen oder anderen Seite. Zumeist wähle ich aber aus einer zeitlichen Bedrängnis heraus. Ich darf mir das also nicht selber gutschreiben, mit Urteilskraft beim Wahl meiner Lektüre gesegnet zu sein. Es ist in den meisten Fällen fast zufällig, welches Buch ich lese.

Und warum auch nicht: auf die schönsten Dinge stößt man zumeist zufällig.

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Eine schöne Begegnung ist nun gerade die mit Nona Fernández. Schon angetan von ihrem Buch „Die Straße zum 10. Juli“, bestätigt sich nun und verstärkt die Überzeugung, es mit einer außerordentlichen Autorin zu tun zu haben.

„Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ haut mich schlichtweg vom Hocker. Das ist nicht sehr ausgefeilt formuliert, aber warum sollte ich um Worte ringen, wenn es doch auch so wahr ist.

In der Mitte des Buches gibt es eine Stelle, da wird erzählt, wie Studenten die Fassade des Bahnhofs von Mapocho zeichnen. Ein Mann geht durch ihre Reihen und begutachtet ihre Zeichnungen. Er macht sich ein Bild. da heißt es:

Eine mittelgute Zeichnung spricht für sich selbst. Sie erzählt vom Leib und von der Seele, von der Vergangenheit, der Gegenwart, der Möglichkeit einer Zukunft. Eine gute Zeichnung hingegen riecht, schreit, schwitzt. Sie enthüllt Ängste, Horrorvisionen, Albträume und sogar die glücklichen Tage. Eine gute Zeichnung beweist, entwaffnet und deckt auf. Seinem Betrachter bleibt nur übrig zu schweigen und alles zu verstehen.

So geht es mir mit diesem Buch. Nur gut? Nein, es ist mehr als das. Ich sollte schweigen, da ich längst nicht alles verstanden habe. Wenn ein Buch bei Dir nicht bleibende Spuren hinterlässt, ist es nichts wert. Um’s Verstehen geht es nicht. Nicht um die Wiedergabe des Gelesenen. Es muss dich auf jeden Fall erstmal zum Schweigen bringen. Vielleicht schaffst du es dann später, irgendwas Verständnisloses darüber zu brabbeln. Vielleicht gelingen Dir sogar ein paar ganz kluge Sätze dazu, zitierbar und gefällig. Wichtig bleibt aber nicht, dass du Worte findest. Sondern dass Du anwesend bist, wenn eine quasi chemische Reaktion stattfindet, während du es liest, dass sich irgendwas verändert hat.

Ein gutes Buch, du vergisst vielleicht das meiste von seinem Inhalt, aber etwas bleibt zurück.

Der Bahnhof von Mapocho, stillgelegt, dient als Kulturzentrum für ein „Mindestmaß in Sachen Kunst und Kultur“.

Sie kommt, grüßt, gefällt, aber sie bleibt nicht lange.

Die Hauptfigur in Fernández Roman ist der Fluß Mapocho, er durchzieht Santiago und auf dem die Toten dahintreiben und nicht vergessen werden können. Da sind die Lebenden Rucia und Indio, das Geschwisterpaar, deren Vater eines Nachts verschwand und die Mutter tödlich verunglückte, sowie Fausto, ein Historiker, der die Geschichte Chiles neu erzählen will, dabei lieber einige Stellen verschweigt und von teilweise kopflosen Toten sich verfolgt glaubt. Sie suchen und finden einander, die Toten und die Lebenden. Sie sind nicht zu vergessen. „Der Tod ist eine Lüge.“, sagt einmal Fausto, bereit, selbst in den Mapocho zu springen.

Der Tod ist eine Lüge. Alle kommen Sie wieder. Oder sind immer da. Mit Ihnen eine nicht wieder gutzumachende Schuld, die selbst eine aus Granit gebaute Brücke über den Mapocho letzten Endes zum Einsturz bringt.

Erinnerung, Realität und Traum, meisterhaft versteht es Fernández, die verschiedensten Ebenen zu verbinden. Magischer Realismus, das erklärt’s, aber auch nicht.

Vergessene Erinnerungen in einem Kopf, der träumen will.

Und ich ein Leser und ein Buch, das nicht enden soll. Es wird hoffentlich nicht vergessen gelesen zu werden. Dafür kann man gerne die fünf angesagtesten Neuheiten sausen lassen.

Nona Fernández, Die Toten im trüben Wasser des Mapocho (Septime Verlag, ausgezeichnet übersetzt von Anna Gentz)

 

XL. Alle Aventiuren alle

Warum erzähle ich das eigentlich? Das will doch keiner wissen. dafür hat doch keiner Interesse. Ich bin wahrscheinlich einfach ein Plappermaul.

Jedenfalls es war vor Kurzem ein Morgen, da war nichts los. Da war alles grau wie von einer Staubschicht, aber eben von unten. Die Fenster auf und frische Luft hinein, das brachte nichst. Die frische Luft war wie die vom Vortag oder der Woche davor oder wie nur dem Namen nach, aber eigentlich ein Billigprodukt.

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Also jedenfalls war alles irgendwie wie schon immer da. Wie einfach nur schlecht Frischgehalten, mit so einem komischen Beigeschmack. Und man macht’s und akzeptiert’s nur, weil das eine Gewohnheit ist, das Machen und Akzeptieren.

Wer gar kein Gewohnheitstier ist, das ist unser Tischer, der brachte es auf den Punkt, in einem Satz, wie eine Weisheit oder ein Kommentar zum Weltenstand: Alle Aventiuren alle. Sagte es und blies dann wieder Trübsal, die Tonleiter rauf und runter.

Die Welt war noch da, aber sie war so seltsam fad, als hätte irgendein Gemeiner des Lebens Salzstreuer mutwillig irgendwohin versteckt, dass keiner weiß wo. Von einem Moment auf den anderen schienen alle Aventiuren weg, verschwunden, aus dem Regal geräumt.

Da war ein Suchen, unter Tisch und Bett, draußen hinter den Sträuchern und zwischen den Bäumen, im Umkreis von zwei Straßen weiter nicht ein Abenteuer, kein Zauber, keine Spannung, nichts, was als Wagnis in Frage käme.

Sicherlich, es waren Aufgaben da, Pflichten, z.B. Tischers Hose waschen, Teller und Tassen spülen, solche Dinge. Gleichermaßen gab es draußen eine Welt zu reparieren, das zwar schon,. Und war auch wichtig. Schmutzige Hosen, Teller und Tassen sind sehr unschön und eine kaputte Welt höchst unpraktisch. Allerdings wer mag nur Aufgaben und Pflichten haben?

Das Grundübel so vieler Aufgaben sind doch ihre Routinen und ständigen Wiederholungen. Andauernd Hosen waschen, das macht doch keiner gerne. Und es schränkt auch ein. Am Ende wäscht man nur noch Hosen, hat keine Zeit mehr für Anderes bzw. ist völlig erschöpft vom Hosenwaschen. Mit der Welt im Ganzen ist es ganz ähnlich, vielleicht nur um ein Weniges komplexer. Muss getan werden, regelmäßig und mit Ernst, aber genau deshalb tut man sich so schwer damit. Hinzu kommt, dass man ja auch noch Hosen waschen muss. Oder man muss sich welche kaufen. Von der Zeit, die für Teller und Tassen draufgeht, mal ganz abgesehen.

Aufgaben erschöpfen einen so sehr, dass oft genug nur noch Energie bleibt, sie mit halbem Herzen zu tun. Und sie erlauben keine Schummeleien. Eine nur halb gewaschene Hose ist beim nächsten Mal nur noch zu einem Viertel sauber. Wer so weitermacht, hat bald nichts mehr anzuziehen.

Bei der Menge an Aufgaben, es geht ja nicht nur um Hose, Teller, Tassen und Welt, da weiß man gar nicht mehr, wie man das alles schaffen soll, mit so einem halben, Viertel- oder Achtelherzen. Da geht einem sehr schnell die Puste aus.

Unser Tischer aber, der kann nur mit ganzem Herzen die Dinge tun, die zu tun sind. Das können nicht nur einfach Aufgaben sein. Aventiuren sind’s, die verlangen ein ganzes Herz, mit Halbheiten gibt sich so eine Aventiure nicht ab. Tischer also, mit seinem ganzen wildpochenden Herzen fand kein Äquivalent zu seiner Leidenschaft. Und Hosenwaschen wollte er nicht.

Alle Aventiuren alle ist wie Alles irgendwie egal. Und Tischer wurde melancholisch. Wenn das andauert, werden wir’s auch. Traurig dazu. Wir verstehen Tischer sehr gut, können ihm aber momentan nicht helfen. Ich kann ihn nicht zu den Aventiuren tragen, wo sie auch seien, wie ich früher zu tun die Ehre hatte. Doch mit jedem Tag ziehen sie sich weiter zurück. Wir haben einen Tischer, der verzehrt sich nach Aventiuren. Wir aber, wir haben unsere Aufgaben. Und keine Zeit.

Es ist doch aber so, dass nur Geschichten, also Aventiuren erzählt werden können. Alles andere aber getan werden muss, was so schwerfällt, weil eben Geschichten das Salz in der Suppe sind, nicht aber Hosenwaschen und Weltretten.

Das hatte ich befürchtet, dass, wenn man melancholisch wird, man zu philosophieren anfängt. Das ist dann aller Aventiuren Ende. Hosen werden davon auch nicht sauber.

Kurzum: es braucht wieder Aventiuren für Tischer, für uns. Es wird sonst zu grau. Mein Vorschlag also, Hosenwaschen und Weltretten als Aventiure betrachten und dann davon erzählen.

(Dies leicht wirr Dahingeschriebene meint im Grunde nur oder eigentlich auch, dass mir das Schreiben fehlte und ich es wieder als Aufgabe sehen will, bis dabei Aventiuren herauskommen. Ist’s soweit verständlich?)