„Ich will ein Schokocroissant, sofort“ (Picus Verlag)

Das ist doch sie. Das kann doch nicht sein? Aber ja, das ist sie. Schlief für sehr lange Zeit in einem Turm, dass ihr die Haare wuchsen und sie beim Aufwachen großen Hunger verspürte. Was wollen aber Prinzessinnen, wenn sie dann mal wach sind? Gleichviel, das aber sofort. Das ist die Wesensart von Prinzessinnen. Das ist schon OK so. Gegen solche Naturgesetze soll man sich lieber nicht stellen.

Und ein Schokocroissant, das ist doch einfach. Das sollte möglich sein. Nahm Krone mit sich und darunter die langen Haare, stieg vom Turm und fand doch erst keinen, der ihr ein Schokcroissant gehabt hätte. Prinzessinnen setzen ihren Willen durch, geben so schnell nicht auf. Da wäre sie ja keine echte Prinzessin ohne ihren Prinzessinnentrotz und königlichen Willen. Auch wenn’s auf Kosten der Haare geht, der eingerittene Prinz am Ende von der Prinzessin mit Struppelkopp nichts wissen will. Der kann auch ruhig weiterreiten, hat er doch nur Sinn für Äußerlichkeiten, nicht für der Prinzessinnen Wesensart, von der unsere Prinzessin so ausgeprägt viel davon hat. Außerdem ihr Sinn stand nach Croissant, nicht nach Prinzen. Prinzessinnen-Prioritäten.

Und steigt gesättigt wieder auf ihren Turm. Um zu schlafen, bis sich Prinzessinnenwillen wieder regt. Die Moral von der Geschicht‘. Lustig ja, aber wohltuend, nein, keine. Nun meine….

…meine ist ihr verblüffend ähnlich. Ich bin nicht davongeritten. Zu einem Prinzessinnen-sturkopf wie ihrem passt mein ritterlicher Dickkopf recht passabel. Sie hat die Krone, ich einen Helm mit Feder. Das rasselt manchmal ganz schön zusammen, sicherlich. Am Ende ist sich aber zumeist geeinigt ihrem gekrönteren Haupt gefügt. Die Wünsche sind dem nach Schokcroissants nicht unähnlich und deswegen absolut erfüllbar. Dafür muss ich jetzt keine übergroßen Drachen bezwingen oder Meere mit einem Fingerhut auslöffeln. Dafür tue ich’s auch zu gern, weil ich mich dabei recht ritterlich fühlen kann – und mir so gut ihr Schokoladenmund gefällt. Wie sie dann nur auf den Genuß achtet und nicht auf Prinzessinnenetikette. Wenn sie es nicht selber merkt, bin ich ruhig, so schön der Anblick.

Mein Fräulein Schneefeld. Meine Prinzessin. Und jetzt sogar als Buch. Als Märchen.

Natürlich nicht. Die hier heißt Bertie. Aber die Ähnlichkeit ist verblüffend. Diese Wesensart, kenne ich nur zu gut. Es ist ein sehr lustiges Bilderbuch. Für die echten Prinzessinnen. Wie die meine…..(ich muß dann mal, ich wurde gerufen.)

Prinzessin

Schaut nur, ist die Ähnlichkeit nicht verblüffend?

Jean-Luc Englebert – Ich will ein Schokocroissant, sofort! (Picus Verlag)

Ragnar Helgi Olaffson: Handbuch des Erinnerns und Vergessens

Ich schwelge. Das tue ich selten und nie mit ganz leichtem Herzen. Man läuft Gefahr, zu viel zu sehen / zu meinen an (Deutungs-)Möglichkeiten und das bei vielleicht nicht ausreichendem Talent.

Wer weiß denn schon, was gut, was schlecht, was besser und was schlechter, wenn er nicht vorher schon alles weiß und sich noch daran erinnern kann. Hier ein Buch für Philosophen, die gerne welche sein möchten und das ernst meinen, also nichts zu wissen und zuletzt auch nicht mehr. Aber wo der Philosoph nicht weiterkommt, da kann der Poet helfen, wenigstens also, die Form zu (be)wahren.

Ich muss mich sehr zurückhalten, um nicht überbordend zu werden, es nicht unnötig zu beschweren. Es ist, bei aller Philosophie, so leicht. Ich will nicht den Fehler machen, es mit irgendwelchen Wortbestimmungen und -erklärungen auf den Boden herunterzuholen.

Man muss es laufen lassen. Kein Buch für Seßhafte, keines für Dozenten. Keines unbedingt für Spiegelleser. Dies Buch gehört den Mutigen, nicht den allzu Schlauen, die jedes Gedanken-Spiel kaputtmachen. Der kürzeste Weg ist nicht immer der Weg der Erkenntnis.

Ich kann hier nur Andeutungen machen. Ich bin mit dem Buch noch lange nicht fertig. Ragnar Helgi Olaffsons letztes beim Elif-Verlag erschienene Buch Denen zum Trost, die sich in Ihrer Gegenwart nicht finden können hat mich verzaubert, dieses befeuert mich. So muss ich vorsichtig sein, dass ich nicht über’s Ziel hinausschieße. Manche Wege der Überzeugung enden an Mauern und man muss umkehren. Gelesen wie im Rausch, will ich mir Zeit nehmen, es zu verstehen. Es wäre ein Mißverständnis, anzunehmen, das Verstehen geht mit dem Lesen einher. Und klappt man das Buch letztlich zu, wäre alles gesagt. Wahrlich, nicht. Bei der nächsten Lektüre setze ich die Post-Its an anderer Stelle, beim nächsten Mal werde ich mich korrigieren müssen. Beim nächsten Mal führt der Weg woanders hin.

Hinzu kommt, es braucht nie lange und wie wenig weiß man dann noch. Das Gedächtnis hat ein ganz anderes Buch gelesen, seine Erläuterungen sind lückenhaft. Die Erinnerung nimmt es mit der Wahrheit nie sehr genau. Sie ist ein wenig porös.

Nicht in den offensichtlicheren Stücken zum Erinnern und Vergessen, sondern in der Erzählung Stellungnahme des ehemaligen stellvertretenden Direktors des SLA, des staatlichen Liegenschaftamtes, das sich um die Instandhaltung staatlicher Imobilien zu kümmern hat, finde ich meinen vorläufigen Schlüssel zu diesem Buch und das Dilemma in einem Zitat so einigemaßen wiedergegeben.

Jede Immobilie, zu jeder Zeit, ist für alle Ewigkeiten eine einzige Kette des Verfalls.

Und schon während ich das hier schreibe, spüre ich es, kann so schnell nicht nachbessern, wie ich feststellen muss, Unsinn zu schreiben, weswegen ich besser abschließend nur noch raten möchte: Dieses Buch zu lesen.

(Oder wenigstens einmal dem Vortrag von Wolfgang Schiffer zu lauschen, der dieses Buch zusammen mit Thor Gislason so kongenial übersetzt hat – hier)

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Ragnar Helgi Olaffson, Handbuch des Erinnerns und Vergessens (erschienen in der dt. Übersetzung beim Elif-Verlag)

 

 

 

Sophie Calle, Das Adressbuch

 

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Die Künstlerin Sophie Calle findet 1983 auf einer Straße in Paris ein Adressbuch. Bevor sie es an seinen Eigentümer zurückschickt, kopiert sie es und bittet die Kontakte, ihn, Pierre D,, zu beschreiben. Mancher kommt dem nach. Einige lehnen empört ab. Es ergibt sich ein Bild.

Es ist eine Zufallsbegegnung. Calle lernt einen Fremden kennen durch die Mitteilungen von Anderen, mit Pierre D. mehr oder weniger bekannten Menschen. Ich enthalte mich bei der Frage, ob es zulässig, wie sie es tut. Das ist für mich Nebensache. Mich hat vielmehr fasziniert, wie aus einem Fremden ein interessanter Mensch werden kann.

Der Fremde zu Beginn bleibt es und wird nicht vollständig durch die Beschreibungen fassbar. Aber ohne diese Beschreibungen bliebe Pierre D. vollständig fremd und nicht von Interesse. Zu Beginn bedarf es der Überwindung („Die Angst vor dem ersten Gesprächspartner“), aber mit der Zeit, mit jedem weiteren Gespräch, wird Pierre D. greifbarer, zu einer vertrauteren Person, die Callet immer besser zu kennen glaubt. Mehr als das. Sie, die Pierre D. nie persönlich begegnet ist, weiß über ihn zu erzählen, was seine Bekanntschaften nicht wussten, wie Marie-France:

Seit zwei Jahren hat sie ihn nicht mehr gesehen. Mehr weiß sie nicht. Also erzähle ich ihr von Pierre. Und sage ihr, was ich an ihm mag.

Wo ist da der Unterschied? Sie kamen zusammen mit Pierre durch einen Zufall, wissen das Eine über ihn, das Andere nicht, genauso wie Sophie Calle. Sie fand zufällig sein Adressbuch auf einer Straße, seinen jetzt besten Freunden begegnete zuerst Pierre ebenso zufällig auf der Universität, bei der Arbeit, bei einem Filmfestival oder lernten ihn kennen durch andere Freunde oder Bekannte.

Immer zuerst ein Fremder. Dann ein mehr oder weniger Bekannter, der aber auch wieder verschwinden kann und vergessen wird.

Mir fiel aber zuerst der Mut ein, den es braucht, ganz bewusst sich einen Fremden bekannt zu machen, der zufälligen Begegnung, wie etwa den Fund seines Adressbuchs, erst eine Bedeutung mittels von erzählten oder gemeinsam erlebten Geschichten zukommen zu lassen. Jeder ist jedem ein Fremder, wie jeder einem Jedem bekannt werden kann (und doch fremd bleibt).

Der Zufall verschwindet mit den Geschichten, wie das Fremde.

Aber es ist für Sophie Calle ein Projekt

Die Beschreibungen fügen sich ineinander. Das Porträt wird immer schärfer und gleichzeitig verblasst es. was erwarte ich noch? Soll ich aufhören?

Der Zufall bringt die Menschen zusammen, aber nicht wegen ihm bleiben sie es. Was ist es ? In diesem Buch von Sophie Calle, „Das Adressbuch“, gibt es darauf keine Antwort. es muss der Mensch für den anderen wohl mehr sein als ein Projekt, eine Studie, ein interessamtes Objekt. am Ende gibt es einen Fingerzeig, worauf es wohl hinausläuft, Calle wendet sich an Pierre D. direkt:

Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnen würde, würde ich Sie vermutlich erkennen, aber ich würde Sie nicht ansprechen. ich habe Ihre Freunde getroffen, ich habe ihnen zugehört. Ich brauche sie nicht mehr.

Einander brauchen. Für eine gewisse Zeit. Oder darüber hinaus.

Ein besonderes Buch. Ein interesssantes Experiment. In gewisser Weise verwerflich, aber äußerst erhellend. Besondere Empfehlung.

P.S. Sophie Calle und Pierre D. sind sich nie begegnet, haben sich nie getroffen. Die Geschichte wurde nicht fortgeführt.

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Sophie Calle, Das Adressbuch (Bibliothek Suhrkamp, aus dem Französischen von Sabine Erbrich)

 

 

 

Cinema – eine Lyrikanthologie (Elif Verlag)

Die Box mit Filmen von Kusturica, die siebte Staffel Mad Men. Matrix, alle drei Teile in abfallender Folge. Mehr ist gerade Film, mehr Episoden von 50 Minuten Länge. Leichter momentan, dieser Leidenschaft nachzukommen.

Dazu jetzt diese Anthologie zur schönsten Nebensache der Welt, kenn ich, erkenn ich, Filmzitate, nein, erwarte keine Wahrheit, überlasse mich ganz der Magie. Darf ich’s in einem eigenen Gedicht sagen, ich bitte nicht um Aufnahme, aber um Milde:

Rot oder blau?
Ich entscheide mich
Schlucke ich,
Bitter ist die Pille nicht
Und bleibe. Staunend. Mit nicht wenig ungutem Gefühl.

Weil ich doch die Technik dabei nicht verstehe.

Bei viel Sympathie. Gedichte wie diese sind wie Menschen in der Menge – hier in einem Kino-Foyer. Die einem kurz auffallen, ein Gesicht, eine Geste, ein Wort, und man spinnt Gedanken. Dann verliert es sich vermeintlich wieder. Kann sein, man begegnet sich nochmal. Da war was. Irgendwas. Man erinnert sich. Kommt nicht drauf.

Gleichzeitig empfinde ich Gedichte immer schon als Beunruhigung. Ein wenig auch als Ärgernis, als Störung. Mit einem wird man leichter fertig. Gedichtbände sind da geradezu eine Zumutung. (Wär‘ ich Heidegger, könnte ich erklären, was hier Zu-Mutung bedeuten soll.)

Dennoch ist da Faszination. Kein Wort davon, dass es glatt aufgehen muss. Wahrscheinlich bin ich zu feige für mehr als ein Gedicht. Was für Fähigkeiten muss derjenige haben, der es mit mehreren aufnimmt. Ich liebe Gedichte, ja, das tue ich, aber eher so, wie ein Kaninchen eine Schlange lieben kann. Ich bin für Gedichte schlichtweg zu feige. Mit einem Gedicht werde ich fertig.

Allerdings Gedichte über diese meine Leidenschaft, das macht mich mutiger, zutraulicher – und macht’s wahrscheinlich deshalb verhängnisvoller für mich. Schon habe ich das ganze Buch gelesen. Und mindestens zwei Folgen meiner aktuellen Lieblingsserie dabei verpasst.

Aber ich lebe noch. Ich habe bislang alle Lyrikbände der letzten Zeit überlebt. Sie kamen fast ausnahmslos aus dem Elif-Verlag. Das stählt für kommende Poesie. Das muss bereits Poesie sein. Verlockt von so viel Wagemut, befördere ich mich hinaus aus dem Kreis derer, die wirklich von Poesie etwas verstehen und in diesem Buch zu finden sind, mit einem weiteren Gedicht, ahnend, dass ich mich gleichzeitig auch als vermeintlicher Filmkenner disqualifiziere:

Mit einem Gedicht über Steven Seagal
endet Poesie
hier.
(Und kommt auch nicht wieder)

Cinema, eine Lyrikanthologie (erschienen beim Elif-Verlag)

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Nona Fernández – Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Die Backlist ist nicht der Besenwagen der Literatour.  Jedes Buch ist länger backlist als Novität. Und Bestsellerlisten sind nur Aufkleber.

Ich lese langsam und werde also auch langsam abgehängt. Ich würde gerne zugeben, dass für mich das kein Problem ist. Ich würde gerne zugeben, dass ich daraus eine Tugend mache. Dass hinten mehr Zeit bleibt für genauere Lektüre. So oder so braucht man ein glückliches Händchen. Bei der Menge an Titel bedeutet ein Fehlgriff ein Verlust an Lebenszeit. Wenn man schon nicht Zeit findet, die neuesten Bücher zu lesen, so sollten es wenigstens die richtigen sein.

Ich möchte nicht prahlen, aber ich hatte in letzter Zeit ein sehr glückliches Händchen. Jemand hat es gut mit mir gemeint und mir die richtigen Bücher zugeführt. Im Moment der Wahl bin ich selten von irgendeinem bestimmten Anspruch geleitet. Es ist selten von einem konkreten Interesse geleitet, dass ich dieses nun lese und jenes nicht. Höchstens eine gewisse Sympathie für einen Autor oder einen Verlag bzw. Verleger bewegen die Waagschale zum Schluss zur einen oder anderen Seite. Zumeist wähle ich aber aus einer zeitlichen Bedrängnis heraus. Ich darf mir das also nicht selber gutschreiben, mit Urteilskraft beim Wahl meiner Lektüre gesegnet zu sein. Es ist in den meisten Fällen fast zufällig, welches Buch ich lese.

Und warum auch nicht: auf die schönsten Dinge stößt man zumeist zufällig.

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Eine schöne Begegnung ist nun gerade die mit Nona Fernández. Schon angetan von ihrem Buch „Die Straße zum 10. Juli“, bestätigt sich nun und verstärkt die Überzeugung, es mit einer außerordentlichen Autorin zu tun zu haben.

„Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ haut mich schlichtweg vom Hocker. Das ist nicht sehr ausgefeilt formuliert, aber warum sollte ich um Worte ringen, wenn es doch auch so wahr ist.

In der Mitte des Buches gibt es eine Stelle, da wird erzählt, wie Studenten die Fassade des Bahnhofs von Mapocho zeichnen. Ein Mann geht durch ihre Reihen und begutachtet ihre Zeichnungen. Er macht sich ein Bild. da heißt es:

Eine mittelgute Zeichnung spricht für sich selbst. Sie erzählt vom Leib und von der Seele, von der Vergangenheit, der Gegenwart, der Möglichkeit einer Zukunft. Eine gute Zeichnung hingegen riecht, schreit, schwitzt. Sie enthüllt Ängste, Horrorvisionen, Albträume und sogar die glücklichen Tage. Eine gute Zeichnung beweist, entwaffnet und deckt auf. Seinem Betrachter bleibt nur übrig zu schweigen und alles zu verstehen.

So geht es mir mit diesem Buch. Nur gut? Nein, es ist mehr als das. Ich sollte schweigen, da ich längst nicht alles verstanden habe. Wenn ein Buch bei Dir nicht bleibende Spuren hinterlässt, ist es nichts wert. Um’s Verstehen geht es nicht. Nicht um die Wiedergabe des Gelesenen. Es muss dich auf jeden Fall erstmal zum Schweigen bringen. Vielleicht schaffst du es dann später, irgendwas Verständnisloses darüber zu brabbeln. Vielleicht gelingen Dir sogar ein paar ganz kluge Sätze dazu, zitierbar und gefällig. Wichtig bleibt aber nicht, dass du Worte findest. Sondern dass Du anwesend bist, wenn eine quasi chemische Reaktion stattfindet, während du es liest, dass sich irgendwas verändert hat.

Ein gutes Buch, du vergisst vielleicht das meiste von seinem Inhalt, aber etwas bleibt zurück.

Der Bahnhof von Mapocho, stillgelegt, dient als Kulturzentrum für ein „Mindestmaß in Sachen Kunst und Kultur“.

Sie kommt, grüßt, gefällt, aber sie bleibt nicht lange.

Die Hauptfigur in Fernández Roman ist der Fluß Mapocho, er durchzieht Santiago und auf dem die Toten dahintreiben und nicht vergessen werden können. Da sind die Lebenden Rucia und Indio, das Geschwisterpaar, deren Vater eines Nachts verschwand und die Mutter tödlich verunglückte, sowie Fausto, ein Historiker, der die Geschichte Chiles neu erzählen will, dabei lieber einige Stellen verschweigt und von teilweise kopflosen Toten sich verfolgt glaubt. Sie suchen und finden einander, die Toten und die Lebenden. Sie sind nicht zu vergessen. „Der Tod ist eine Lüge.“, sagt einmal Fausto, bereit, selbst in den Mapocho zu springen.

Der Tod ist eine Lüge. Alle kommen Sie wieder. Oder sind immer da. Mit Ihnen eine nicht wieder gutzumachende Schuld, die selbst eine aus Granit gebaute Brücke über den Mapocho letzten Endes zum Einsturz bringt.

Erinnerung, Realität und Traum, meisterhaft versteht es Fernández, die verschiedensten Ebenen zu verbinden. Magischer Realismus, das erklärt’s, aber auch nicht.

Vergessene Erinnerungen in einem Kopf, der träumen will.

Und ich ein Leser und ein Buch, das nicht enden soll. Es wird hoffentlich nicht vergessen gelesen zu werden. Dafür kann man gerne die fünf angesagtesten Neuheiten sausen lassen.

Nona Fernández, Die Toten im trüben Wasser des Mapocho (Septime Verlag, ausgezeichnet übersetzt von Anna Gentz)